7

 

Als wir auf den Marktplatz traten, schmunzelte Poirot. «Mr Gabler wird leider eine Enttäuschung an uns erleben.»

«Wir könnten essen gehen», schlug ich vor, «bevor wir nach London zurückfahren. Oder sollen wir unterwegs einkehren?»

«Mein lieber Hastings, ich habe nicht die Absicht, Basing so schnell zu verlassen. Der Zweck unseres Besuchs ist noch nicht erreicht.»

Ich sah ihn groß an. «Sie werden doch nicht – aber, lieber Poirot, das kann nicht Ihr Ernst sein! Die alte Dame lebt ja nicht mehr.»

«Eben!»

Der Ton, in dem er dieses Wort sprach, überraschte mich noch mehr. Allem Anschein nach hatte dieser unzusammenhängende Brief ihm etwas in den Kopf gesetzt. «Aber welchen Zweck soll das haben, Poirot, da sie doch tot ist? Sie kann Ihnen jetzt nichts mehr erklären. Was immer sie beunruhigte, ist jetzt vorbei und erledigt.»

«Wie leicht, wie gedankenlos Sie die Sache abtun! Nichts ist erledigt, solange Hercule Poirot sich damit beschäftigt!»

Ich hätte aus Erfahrung wissen sollen, dass es aussichtslos war, mit ihm zu streiten. Trotzdem fuhr ich vorschnell fort: «Aber da sie nun einmal tot ist – »

«Eben, Hastings. Eben – eben. Mit einer geradezu großartigen Borniertheit wiederholen Sie das Wichtigste immer wieder, ohne die Bedeutung zu gewahren. Sehn Sie denn nicht ein, wie wichtig das ist? Miss Arundell ist tot!»

«Aber, mein lieber Poirot, ihr Tod erfolgte auf ganz natürliche und alltägliche Weise! Nichts Auffälliges oder Unerklärliches. Mr Gabler hat es selbst gesagt.»

«Mr Gabler hat auch gesagt, dass Littlegreen House für 3000 Pfund ein Gelegenheitskauf sei. Schwören Sie auch auf das?»

«Nein, das nicht. Er will das Haus offenbar möglichst bald los sein. Wahrscheinlich muss es von oben bis unten renoviert werden. Ich bin überzeugt, dass er – oder vielmehr seine Auftraggeberin – auf ein viel niedrigeres Angebot eingehen würde. Häuser dieser Art müssen verdammt schwer anzubringen sein.»

«Na also!», bemerkte Poirot. «Berufen Sie sich nicht auf Gabler, als wäre er ein von Gott erleuchteter Prophet, der nicht lügen kann!»

Da wir in diesem Augenblick den Gasthof «The George» betraten, schnitt Poirot mit einem eindringlichen «Schscht!» das Gespräch ab.

Wir wählten einen Tisch in dem menschenleeren Speisesaal, und ein alter Kellner brachte uns ausgezeichnete Hammelkoteletts mit wässerigem Kohl und mehligen Kartoffeln, Eingemachtes, Käse und zwei Tassen mit einer zweifelhaften Flüssigkeit, die sich für Kaffee ausgab.

Beim Kaffee zog Poirot die Besichtigungsscheine aus der Tasche und fragte den Kellner um Auskunft.

«Jawohl, Sir, die kenne ich fast alle. Hemel End ist etwa fünf Kilometer von hier – ein kleines Nest. Zu Bissetts Farm ist es zwei Kilometer von hier, hinter King’s Head führt ein Wiesenweg dorthin. Villa Rowena? Nein, die kenne ich nicht. Littlegreen House ist ganz in der Nähe, nur ein paar Minuten.»

«Ich glaube, ich habe es im Vorbeigehen gesehn. Das kommt wohl am ehesten in Betracht. Ist es gut erhalten?»

«Gewiss, Sir. Alles in bestem Zustand – Dach, Leitungen und so weiter. Allerdings altmodisch, nie modernisiert worden. Der Garten ist eine Pracht. Miss Arundell liebte ihren Garten sehr.»

«Das Haus gehört aber einer Miss Lawson.»

«Jawohl, Sir. Miss Lawson war die Gesellschafterin von Miss Arundell, und als die alte Dame starb, vermachte sie ihr das Haus und alles andere.»

«So? Sie hatte wohl keine Verwandten?»

«Doch, Sir. Nichten und Neffen. Aber Miss Lawson war natürlich die ganze Zeit um die alte Dame. Und Miss Arundell war infolge ihres hohen Alters schon ein bisschen – ja – so war das.»

«Sie hinterließ wahrscheinlich nur das Haus und wenig Geld?»

Wo eine rundheraus gestellte Frage ihren Zweck nicht erreicht, führt bekanntlich eine falsche Behauptung sogleich zum Ziel und bringt die gewünschte Antwort in Form von Widerspruch.

«Ganz im Gegenteil, Sir, ganz im Gegenteil! Alle waren platt, dass die alte Dame so viel Geld hinterließ. Die Testamentsbestimmungen, die Summe und so weiter, das alles hat in der Zeitung gestanden. Einige hunderttausend Pfund sind’s gewesen.»

«Ich bin überrascht», sagte Poirot. «Das klingt wie ein Märchen. Die arme Gesellschafterin wird über Nacht unfassbar reich. Ist Miss Lawson noch jung? Jung genug, meine ich, um ihren plötzlichen Reichtum zu genießen?»

«O nein, Sir, so in mittlerem Alter.»

«Die Neffen und Nichten müssen schwer enttäuscht gewesen sein.»

«Ja, es lässt sich denken, was für ein unerwarteter Schlag das für sie war. Es ist hier im Ort viel darüber geredet worden. Die einen sagen, es ist ein Unrecht, das Geld gehört in die Verwandtschaft. Die andern wieder sagen, jeder kann mit seinem Geld tun, was er will. Beides hat natürlich etwas für sich.»

«Miss Arundell wohnte schon lange hier, nicht wahr?»

«Jawohl, Sir. Sie und ihre Schwestern und vor ihnen der alte General, ihr Vater. An den kann ich mich natürlich nicht erinnern, aber er soll ein Original gewesen sein.»

«Er hatte mehrere Töchter?»

«Drei habe ich selber gekannt, und eine war verheiratet, glaube ich. Ja, Miss Matilda, Miss Agnes und Miss Emily. Miss Matilda starb zuerst, dann Miss Agnes, zuletzt Miss Emily.»

«Das ist noch nicht lange her?»

«Anfang Mai oder Ende April.»

«War sie krank?»

«Sie war leidend. Vor einem Jahr hatte sie die Gelbsucht und wäre fast nicht mit dem Leben davongekommen. Noch lange hinterher war sie gelb wie eine Quitte. In den letzten fünf Jahren kränkelte sie viel.»

«Gibt es hier gute Ärzte?»

«Da wär’ mal Dr. Grainger, der ist schon vierzig Jahre im Ort, und die meisten Leute geh’n zu ihm. Er ist ein bisschen wunderlich und hat so seine Eigenheiten, aber er ist ein guter Arzt, es gibt keinen bessern hier. Sein Assistent ist ein junger Mann, ein gewisser Doktor Donaldson, der ist mehr einer von den modernen. Manchen Leuten ist er lieber. Und dann haben wir noch Doktor Harding, aber der hat die Praxis schon fast ganz aufgegeben.»

«Dr. Grainger war vermutlich Miss Arundells Hausarzt?»

«Ja. Er hat ihr über viele gefährliche Krankheiten hinweggeholfen. Er zwingt einen durch Grobheit zum Leben, ob man will oder nicht.»

Poirot nickte. «Man soll sich immer vorher über den Ort erkundigen, wo man sich ansässig machen will», bemerkte er. «Ein guter Arzt gehört zu den wichtigsten Erfordernissen.»

«Sehr richtig, Sir.»

Poirot verlangte die Rechnung und fügte ein reichliches Trinkgeld hinzu.

«Danke, Sir, danke vielmals. Hoffentlich entschließen Sie sich, hier zu wohnen.»

«Ich hoffe es», log Poirot.

Wir verließen das «George».

«Zufrieden, Poirot?», fragte ich, als wir auf der Straße standen. «Ganz und gar nicht, mein Freund», antwortete er und wandte sich in eine unerwartete Richtung.

«Wohin, Poirot?»

«Zur Kirche, lieber Freund. Vielleicht finden wir etwas Interessantes. Ein altes Glasfenster – ein schönes Grabmal.»

Zweifelnd schüttelte ich den Kopf.

Poirot verbrachte nur kurze Zeit im Innern der Kirche. Ursprünglich gute Frühgotik, war sie mit so viel Unverstand verschönert worden, dass kaum noch etwas von ihrer Eigenart übriggeblieben war.

Er betrat den Friedhof, wanderte scheinbar planlos unter den Gräbern umher, las die Inschriften und machte seine Glossen über die Zahl der Todesfälle in manchen Familien oder über einen sonderbaren Vornamen. Schließlich blieb er vor einer Inschrift stehen, der vermutlich sein Rundgang von allem Anfang an gegolten hatte. Auf einer imposanten Marmortafel stand, halb verwaschen:

Gewidmet

Dem Andenken des

John Laverton Arundell,

General des 24. Sikh-Regiments,

der am 19. Mai 1888, 69 Jahre alt,

im Herrn entschlief.

«Kämpfe den guten Kampf.»

 

Und der

Matilda Anne Arundell,

gestorben 10. März 1912

«Ich will mich aufmachen und zu meinem

Vater gehen.»

 

Und der

Agnes Mary Arundell,

gestorben 20. November 1921

«Klopfet an, so wird Euch aufgetan.»

 

Darunter stand in funkelnagelneuen Lettern:

 

Und der

Emily Harriet Arundell,

gestorben 1. Mai 1936

«Dein Wille geschehe.»

 

Poirot stand eine Weile schweigend vor dem Grabstein. Dann murmelte er: «Erster Mai… Erster Mai… Und heute, am achtundzwanzigsten Juni, acht Wochen danach, erhalte ich ihren Brief. Sehn Sie nicht ein, Hastings, dass das aufgeklärt werden muss?»

Ich sah es ein. Das heißt, ich sah ein, dass Poirot entschlossen war, es aufzuklären.

Der Ball spielende Hund
titlepage.xhtml
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_000.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_001.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_002.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_003.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_004.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_005.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_006.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_007.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_008.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_009.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_010.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_011.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_012.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_013.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_014.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_015.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_016.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_017.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_018.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_019.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_020.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_021.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_022.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_023.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_024.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_025.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_026.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_027.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_028.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_029.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_030.htm
Christie, Agatha - 23 - Der Ball spielende Hund_split_031.htm